Für Volleyball-Coach André Thiel und Handball-Übungsleiter Steffen Fischer ist das Gegnerstudium am Laptop vor den Spitzenspielen gegen Borken und Usedom essenziell.
Stralsund. Als André Thiel die dunkle kleine Kabine betritt, sitzen die Volleyballerinnen des 1. VC Stralsund schon dicht gedrängt auf den Bänken und starren an die Wand. Über einen kleinen Projektor flimmert das letzte Spiel des kommenden Gegners der Wildcats auf der Fließtapete. Es ist 18.30 Uhr, Videoanalyse vor dem Abschlusstraining. „Ihr guckt ja schon – was ist euer Eindruck?“, beginnt Thiel das Gegnerstudium, während er sich vor einen Laptop in der Mitte des Raumes hockt. In dieser Position wird der Trainer des Zweitligisten die nächsten 20 bis 30 Minuten verharren und jedes Detail des Kontrahenten sezieren. Die Spielerinnen versuchen zu folgen.
Heute Abend sollten die Wildcats besonders genau hinschauen, denn morgen (17 Uhr) gilt es, den Meister und Ligaprimus Skurios Volleys Borken zu schlagen und erstmals nach zwei Jahren und drei Tagen wieder die Tabellenführung der 2. Bundesliga Nord zu erobern.
Den Spitzenplatz in der Handball-Oberliga Ostsee-Spree will der Stralsunder HV unbedingt behalten. Daher darf der SHV gegen den punktgleichen Verfolger HSV Insel Usedom nicht patzen (19.30 Uhr). Damit das nicht passiert, schwört auch Trainer Steffen Fischer seine Mannschaft per Analyse am Bildschirm auf den Rivalen ein. Die Handballer haben ihre etwa halbstündige Videoeinheit schon gestern Abend hinter sich gebracht.
„Ich konzentriere mich dabei auf die wichtigsten Einzelspieler und Taktiken in Angriff und Abwehr. Was wir dann erarbeiten, steht auf einem Plakat, das am Spieltag in der Kabine hängt“, erklärt Fischer, der in der Vorsaison noch länger analysiert und von seiner Mannschaft ab und an gebremst werden musste. Eine Gattung bleibt bei der Analyse außen vor: „Ich würde nie über Außenspieler sprechen, die werfen ja nur aufs Tor“, scherzt Fischer.
„Du kannst alles totscouten“
Die Dauer spielt auch bei seinem Volleyballpendant André Thiel eine Rolle: „Die Frage ist: Wie viel Informationen gibst du deiner Mannschaft. Du kannst alles totscouten.“ Für den 38-Jährigen sei die Erkenntnis über das eigene Team oftmals von noch größerer Bedeutung, um gedanklich durchzuspielen, wie sich der Gegner auf seine Wildcats einstellen wird. Wie ein Schachspieler, der zig Züge vorausdenkt.
Die eigene Leistung wird bei den Handballern schon am Dienstag nach dem Spiel ebenfalls mit Video besprochen, danach gibt es die erste kurze Analyse des kommenden Gegners. So kann die Mannschaft die ganze Trainingswoche gezielt auf den kommenden Gegner hinarbeiten.
Videos sind Abendlektüre und Schneidearbeit
Die Vorbereitung auf die Donnerstags- beziehungsweise Freitagseinheit frisst viel Zeit. Thiel schaut sich den Gegner manchmal montags, manchmal mittwochs an – je nachdem, wann sein Job als Geografie- und Sportlehrer und Familienvater, es zulassen. Statt Bücher liegt der Laptop auf seinem Nachttisch. „Die Videos sind gute Abendlektüre“, grinst Thiel. Freitagmittag geht er das Gesehene noch einmal durch – für letzte Eindrücke. Meist muss dafür eine Partie des Gegners ausreichen. „Ich schaffe gar nicht, drei Spiele zu gucken und alles zu notieren“, meint der Coach.
Steffen Fischer macht sich zwar auch Notizen, um die Zeit mit der Mannschaft aber möglichst effektiv zu nutzen, schneidet er aus den letzten Spielen des Gegners einen etwa zehnminütigen Film zusammen. „Gegen wen wir spielen, ist dabei nicht wichtig. Die Vorbereitung sieht eigentlich immer ziemlich ähnlich aus“, sagt der Übungsleiter.
Zwar nimmt die Videovorbereitung viel Zeit in Anspruch – Fischer braucht gut drei Stunden pro Spiel – Thiel kann aber auch auf seine Erfahrung setzen. Er feiert dieses Jahr sein 20. Dienstjubiläum beim 1. VC. „Die meisten Gegner kenne ich nach gefühlt 100 Jahren Videostudium. Daher durchschaue ich viele Sachen der Gegner“, ist sich Thiel sicher und schiebt grinsend hinterher: „Glaube ich zumindest.“
Der 29-jährige Fischer ist erst in seinem zweiten Jahr in der Ostsee-Spree-Liga und kennt die Mannschaften noch nicht in und auswendig: „Bei einigen Mannschaften können wir noch von der Arbeit aus der Vorsaison profitieren, dann müssen wir die Einzelheiten nicht so ausgiebig besprechen.“
Die entscheidende Arbeit erfolgt nach der Theorie in der Praxis in der Trainingshalle. Einzelne Abläufe, die man gegen die gegnerische Abwehr spielen will, werden einstudiert. Meist bildet ein Teil der Mannschaft den Sparringspartner und spielt die Eigenheiten der zukünftigen Gegenspieler nach.
Im Spiel ohne Re-Live am Rand
Auf dem Spielfeld verzichten beide Trainer allerdings auf Bewegtbilder. Thiel schaut hin und wieder auf die Notizen von Co-Trainerin Ariane Voelkner, Fischer bedient sich zur Absicherung des Bauchgefühls am Klemmbrett von Hans-Werner Grabosch. Sofortwiederholung auf dem Taktikboard, wie sie in der Volleyball-Bundesliga üblich sind, sieht der Wildcats-Trainer (noch) skeptisch. „Ich habe schon überlegt, ob ich mir das per Handy oder Tablet live anschauen sollte. Aber das ist auch Ablenkung für mich“, sagt Thiel.
Beim noch schnelleren Handball ist selbst in den höchsten Ligen ein Tablett mit Sofortwiederholungen nicht vertreten. Während hier der letzte Angriff noch einmal durchlaufen würde, verpasst der Analyst schnell die Folgeaktionen. Eine wirkliche Auswertung scheint in der Kürze der Zeit schwer möglich.
So müssen beide Trainer ihre Mannschaft im Vorfeld perfekt auf die Gegner einstellen. Auf dem Feld wird es in den beiden hitzigen Spitzenspielen um die Tabellenführung aber auch um die Leidenschaft und Moral der Spieler gehen. Die können die Trainer bei aller Technik nicht vorher einstudieren. Dafür hoffen sie auf die Fans, die ihre Teams zum Sieg tragen können.
Ostsee-Zeitung
Niklas Kunkel
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